Inhaltsangabe:

Das Jahr nach "Die Wahrheit über den Sentinel". Jeder Polizist trägt ein Berufsrisiko, aber Blair ist mehr als ein gewöhnlicher Polizist. Was ihm an einem gewittrigen Sommertag in Cascade widerfuhr, stellte seine Beziehung zu Jim auf eine harte Probe und veränderte seine Zukunftsperspektiven unwiderruflich. Oder etwa nicht...?

Stellt euch vor, ihr sitzt mit Detective Ellison in einer Kneipe und Jim erzählt, was damals geschah...

Beta:

Ohne die Hilfe meiner Cyber-Freundin Madeleine hätte schon der erste Teil niemals das Licht des Cyberspace erblickt. Danke, Madeleine :-)

Ein weiteres herzliches Dankeschön geht an Sinaida, für Schulterklopfen oder Quengeln, je nachdem was nötiger war, für intelligente, einsichtige Tips und Ratschläge und für GEDULD. :-)

Das dritte und vierte Dankeschön geht an Mishale und Lelaina. :-) Für jede Menge Kommas (auch wenn ich nicht alle verwendet habe) und unbequeme Fragen die zum Nachdenken zwingen und speziell an Mishale für den Hinweis der dazu führte, dass das SWAT-Team Blair *nicht* versehentlich erschossen hat. *g*

Alles was jetzt noch zu bemängeln bleibt, ist ganz allein meine Schuld und alle anderen können sagen: "Siehst du, wir haben dir's ja gesagt."

Genre/Kategorie:

Pre-Slash. Was bedeutet, irgendwann in einer der Fortsetzungen werden sich die Beiden in romantischer Hinsicht *kriegen*. Ob ich das allerdings noch schaffe bevor sie pensioniert werden, sei mal dahingestellt. Derzeit ist alles noch ziemlich platonisch.

Warnung/Rating:

Blair ist Polizist, aber braucht man dafür eine Warnung?
Außerdem geht es stellenweise ziemlich brutal zu. Es gibt Tote und es ist *kein* schönes Bild. Wer einen schwachen Magen hat, sollte vielleicht lieber was anderes lesen. Wem bei Autopsie-Szenen im Fernsehen schlecht wird, sollte das definitiv tun. Ein paar Flüche hie und da.

Rating? Keinen Schimmer, aber da es früher oder später Slash wird: früher oder später NC-17.

Disclaimer:

Ich besitze keinerlei Rechte an den Figuren der Serie "Der Sentinel", die liegen bei Paramount und Pet Fly. Ich habe für's Schreiben kein Geld und keine sonstigen geldwerten Vorteile erhalten und auch nicht die Absicht dafür welche anzunehmen. Ich schreibe aus Spaß an der Freud und zum puren Vergnügen bzw. Missvergnügen der Leser.

E-mail:
guenther.krayer@t-online.de

Wenn sich jemand bemüßigt fühlt einen Kommentar abzugeben, kann man das unter der o.a. e-mail-addy gerne tun. Hey, natürlich würde ich mich Beachtung freuen, wer nicht? Kritik und Lob sind gleichermaßen willkommen. Beleidigungen werden in mein Erinnerungsbuch aufgenommen und zu passender Zeit weiter verwendet, man kann nie genug Schimpfworte kennen. ;-)


Berufsrisiko

von Pat

Beta Read von
Madelaine, Sinaida,
Lelaina und Fraggle




Teil 1


Die Brötchen und ich befanden uns noch im ersten Stock, als das Handy auf dem Wohnzimmertisch klingelte.

Oh verdammt!

Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit Ärger.

Murphys Gesetz. Kein Serienkiller weit und breit, kein Terrorist in Sicht und wir hatten einen freien Tag. Die Sonne schien, die Brötchen dufteten und Sandburg würde in Kürze zum Frühstück zurück sein. Konnte das Telefon etwas anderes als Ärger bedeuten?

Als ich im zweiten Stock ankam gab das Handy auf. Stattdessen schrillte jetzt der schnurlose Apparat.

Definitiv Ärger.

Ich fummelte noch mit den Schlüsseln, als auch das Schnurlose verstummte.

Fein. Soll mir recht sein. Wenn's wichtig war kommt's wieder.

Der flüchtige Gedanke Simon zurückzurufen starb so schnell wie er geboren wurde. Ich setzte die Brötchen auf dem Tisch ab und freute mich auf eine schöne Tasse Kaffee. Ein ausgiebiges Frühstück, etwas Faulenzen, danach mal sehen was Sandburg so vorhatte. Vielleicht ließ sich bei diesem herrlichen Wetter etwas unternehmen. Ich schaltete das Radio in der beruhigenden Gewissheit ein, dass ich mir diesen wohlverdienten freien Tag nicht verderben lassen würde.

Ich irrte mich gründlich.




"...konnten alle zwölf Kinder und die Erzieherin durch das beherzte Eingreifen von Detective Blair Sandburg vor wenigen Minuten entkommen. Detective Sandburg und der mutmaßlich verletzte Geiselnehmer befinden sich noch immer in den Räumen des Kindergartens. Die Situation innerhalb des Hauses ist zur Stunde völlig unklar. Da bisher noch keine weiteren Personen das Gebäude verlassen haben, besteht Grund zur Besorgnis, dass sich Detective Sandburg möglicherweise in der Gewalt des Geiselnehmers befindet. Die Polizei vernimmt derzeit die Betreuerin der Kinder um sich ein Bild von der Lage..."

Oh Sch...

Ich hätte ein Monatsgehalt darauf verwettet dass die Telefonanrufe damit zusammenhingen.

Jacke, Handy.

Waffe und Dienstmarke trug ich sowieso bei mir. Ein Blick an den leeren Wandhaken zeigte, dass Sandburgs Halfter fehlte.

Verrückt, warum fährt er bewaffnet zum Kindergarten?

Ah - und warum gehst du bewaffnet Brötchen holen, Ellison? Die Macht der Gewohnheit.

Auf dem Weg nach unten klingelte das Handy erneut.

"Ellison."

"Jim, Simon hier..."

"Bin schon unterwegs. St. Anne, richtig?"

"Woher... ?"

"Das Radio. Was ist los, was ist mit Sandburg?"

Die eine Sekunde Stille am anderen Ende verursachte mir einen ungemütlichen Knoten im Magen.

"Simon!"

"Keine Ahnung Jim, bin selbst gerade erst losgefahren. Soweit ich weiß fiel dort vor wenigen Minuten ein Schuss. Eine Erzieherin konnte mit zwölf Kindern flüchten und alarmierte die Polizei. Mehr weiß ich nicht. Was zum Teufel macht Sandburg überhaupt in einem Kindergarten?"

Ich übersprang die letzten paar Stufen.

"Er hat den Millers ausgeholfen und ihre Kleine hingebracht. Ihr Auto ist nicht angesprungen."

Die Haustür schlug hinter mir zu.

"Sandburgs Vorstellung von gutem Einfluss auf sein Karma: Tue Gutes und Helfe."

Ich stieg in den Truck.

Simon schnaubte. "Scheint nicht besonders gut zu funktionieren."

"Allerdings nicht. Ich mach' jetzt Schluss, wir treffen uns dort."

Ohne eine Antwort abzuwarten klappte ich das Handy zu und startete den Truck.

Konzentration! Keine Hektik.

Sandburg steckte in der Klemme und ich würde ihn rausholen, richtig?

Richtig.

Kein Grund nervös zu werden.

Überhaupt nicht.




Das Gelände war abgesperrt. Mehrere Streifenwagen, die Spurensicherung und Simon waren bereits eingetroffen. Rundfunk und Fernsehen waren vor Ort und ich fragte mich flüchtig, wie die so schnell Wind von der Sache bekommen hatten.

Egal, spielt jetzt keine Rolle.

Simon grüßte mich mit einer knappen Kopfbewegung.

"Wo ist er?"

"Keine Ahnung, vermutlich noch da drin." Er nickte in Richtung des Hauses.

"Sachstand?"

"Unverändert. Kein Zeichen. SWAT dürfte jeden Moment eintreffen. Ich wollte allerdings auf dich warten bevor jemand anders reingeht. Kannst du irgendwas ausmachen?"

Ich sah zu dem Gebäude hinüber. Die Jalousien waren herabgelassen und verwehrten den Blick ins Innere. Ich lauschte. Simon sah mich erwartungsvoll an aber ich schüttelte den Kopf.

Es war zu laut, zu unruhig, zu viele Stimmen, zu viele Leute. Unter diesen Bedingungen konnte ich mich nicht vernünftig konzentrieren. Und Sandburg war da drin statt neben mir, das machte es nicht gerade einfacher. So funktionierte das nicht.

"Es klappt nicht. Ich muss näher ran."

Simon kaute auf seiner Zigarre und nickte.

"Dachte ich mir schon. Hier."

Er gab mir eine Kevlarweste und breitete einen Plan auf der Motorhaube seines Sedans aus, während ich in die Weste schlüpfte.

Sein Finger fuhr über das Papier. "Hier ist der Haupteingang, dahinter ein gerader Flur bis zum Spielzimmer. Vom Flur führen Türen zu Toilette, Küche, Lagerräume, Konferenzraum."

Er tippte auf das Spielzimmer.

"Hier wurden Sandburg und der Geiselnehmer zuletzt gesehen.

Vom Spielzimmer aus überblickt man den Flur, Glastüren. Jeder der vorne reinkommt wird direkt gesehen. Ist also keine Option. Aber das Gebäude hat hinten einen Notausgang, nur von Innen zu öffnen."

Er zeigte auf die entsprechende Stelle des Grundrisses.

"Von dort führt ein zweiter Flur bis zur hinteren Tür des Spielzimmers. Massives Holz, also undurchsichtig. Dort sind die Kinder rausgekommen, er steht also vielleicht noch offen. Das ist unsere Chance."

Hinter uns traf das SWAT Team ein.

Ich prägte mir den Plan ein und Simon reichte mir ein Headset.

"Okay, dort versuch' ich's. Lenkt den Kerl irgendwie ab, zieht seine Aufmerksamkeit auf euch. Kein Risiko eingehen, ich will nicht, dass der Knabe die Nerven verliert. Und halte SWAT um Gottes Willen davon ab die Bude zu stürmen, solange die Lage unklar ist."

"Du hast zehn Minuten. Wenn sich bis dahin nichts tut, geht das SWAT Team rein."

"Verstanden. Was wissen wir sonst noch? Wer ist der Bursche, was will er?"

"Nichts, wir wissen weder wer er ist, noch was er will. Großer, schlanker Kerl, eher drahtig als bullig, Militärkleidung, Handfeuerwaffe unbekannter Art."

"Mist. Was hat die Kindergärtnerin gesagt? Ich brauch' die Einzelheiten."

"Sandburg ist mit dem Kind eingetroffen und hat sich kurz mit ihr unterhalten, sie kennen sich noch von der Uni. Dann wollte sie Spielzeug aus dem Lager holen, bat Sandburg einen Moment zu bleiben und ging nach hinten raus.

Sie kommt zurück und sieht, dass sich die Kinder in einer Ecke zusammendrängen, der Unbekannte hält sie mit der Waffe in Schach. Sandburg ruft: "Cascade PD, keine Bewegung!" Der Kerl dreht sich zu ihm um, es fällt ein Schuss, alle Kinder schreien.

Sie kriegt die Panik, schnappt sich die Kinder und flüchtete mit ihnen durch die Hintertür. Das war's, mehr wissen wir nicht. Seitdem - nichts."

In einer ratlosen Geste hob Simon die Hände und ließ sie wieder sinken.

"Okay."

Ich zog meine Waffe, überprüfte die Ladung und entsicherte sie.

"Ich geh' jetzt rein. Lass' niemand vorrücken, bevor ich das Zeichen dazu gebe."

"Zehn Minuten Jim und - viel Glück."




Die Hintertür war nur angelehnt.

Gut.

Ich lauschte.

Nichts.

Ich konzentrierte mich stärker, ließ das Gehör schweifen und blendete die Nebengeräusche aus - die Stimmen der Kollegen, die versuchten über Lautsprecher mit dem Geiselnehmer Kontakt aufzunehmen, das entferntere Murmeln der Fernsehteams.

Gespenstische Stille im Gebäude.

Moment, da war etwas.

Atemzüge, heftige, harte Herzschläge.

Ein Rhythmus, den ich unter Hunderten wiedererkenne.

Ich erlaubte mir ein kurzes Lächeln.

Sandburg - zumindest lebt er noch.

Keine Zeichen einer zweiten Person.

Mein Partner schien allein zu sein, trotzdem...

Nicht leichtsinnig werden.

Etwas hinderte ihn daran herauszukommen. Das hieß, er war entweder bewusstlos, gefangen oder zu schwer verletzt. Puls- und Atemfrequenz ließen keinen eindeutigen Schluss zu.

Vorsichtig.

Mit der linken Hand schob ich langsam die Tür auf.

Ein Schwall aus Blut- und Kotgestank attackierte meinen Geruchssinn.

Keine Stimmen.

So lautlos wie möglich bewegte ich mich durch den Flur bis zur Holztür.

Auch nur angelehnt.

Noch immer keine anderen Geräusche - außer Sandburgs Herzschlag und Atem.

Jetzt!

Mit ausgestreckter Waffe trat ich die Tür auf.

"Cascade P..."

Der Satz blieb mir im Hals stecken.

Inmitten von Kinderspielzeug, Bilderbüchern und Plüschtieren kniete, stumm und reglos, mein blutbesudelter Partner und hielt die Leiche einer Frau im Schoß.




Sandburgs Gesicht war erschütternd. Eine aschfahle, steinerne Maske des Grauens. Seine Glock lag achtlos neben ihm auf dem Boden. Strähnen seines langen Haars waren blutverklebt. Er reagierte nicht einmal, kniete einfach nur da, bewegungslos, die Augen geschlossen. Ein Ausdruck maßlosen Entsetzens auf den Zügen.

Mein Gott.

Ich fürchtete den Moment, in dem er die Lider öffnen würde.

Was für ein Gemetzel.

Unwillkürlich suchte mein Geruchssinn nach Sandburg, aber unter all dem Gestank von Blut und Tod war der eigene Geruch meines Partners kaum noch wahrnehmbar.

Ich ließ die Waffe sinken und ging zögernd vor ihm in die Hocke; streckte die Hand nach seiner Schulter aus - vorsichtig - um ihn nicht zu erschrecken.

"Sandburg, bist du verletzt?"

Keine Antwort.

Keine Regung unter meiner Hand, kein Zittern.

Sandburgs Selbstbeherrschung war gespannt wie eine Bogensehne. Eine falsche Berührung, ein falsches Wort, und diese Sehne würde reißen.

"Blair?" Ich zwang ein kaum hörbares Flüstern durch meine Kehle.

Seine Augen öffneten sich und ihr Ausdruck schmolz den Eisklumpen in meinem Bauch zu einer heißen Klaue die meine Eingeweide zusammenquetschte.




Blair...

Ich habe schon viele Gesichter gesehen. Gesichter von Opfern, von Tätern und von Tätern, deren Tat sie zu Opfern werden ließ, aber Blairs Blick war jenseits all dessen. Jenseits von Schock und Horror.

Er balancierte auf einem schmalen Grat zwischen Zusammenbruch und Wahnsinn, starrte mich an ohne mich zu sehen. Sekunden verstrichen, zerflossen wie zähe Melasse, dehnten sich zur Ewigkeit. Lange Sekunden, sein Verstand in einem fragilen Gleichgewicht auf Messers Schneide. Nach welcher Seite würde er kippen?

Bitte...

Meine Hand glitt von selbst in seinen Nacken, zog seinen Kopf über den toten Körper hinweg bis seine Stirn an meiner Schulter lag. Über das viel zu harte Pochen seines Pulses hinweg hörte ich ein unmenschlich hohes Wimmern aus seiner Kehle dringen. Ich erwartete Tränen, aber der herzzerreißende Ton endete in einem erstickten, trockenen Schluchzen.

Dann richtete er sich auf und seine Augen waren trocken, sein Blick fokussiert aber leer, bar jeder Emotion. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, zu verstehen, zu ihm durchzudringen, aber seine Miene war ausdruckslos.

"Blair" hatte sich in einen unauffindbaren Winkel seiner Seele zurückgezogen und war nicht mehr zu erreichen. Vor mir saß Detective Sandburg mit blutigen Händen.




Mit einer sanften, fast zärtlichen Geste ließ er den Körper der Toten zu Boden gleiten, rieb die Handflächen über die Oberschenkel. Die Bewegung hinterließ rotbraun verschmierte Spuren auf seinen Jeans. Geistesabwesend griff er nach seiner Waffe, schob sie in das Halfter hinter seinem Rücken und begann aufzustehen. Jede schleppende, steife Bewegung ein Zeuge seiner Erschöpfung. Wortlos setzte er sich in Bewegung um sich an mir vorbeizuschieben. Ich blickte zu ihm hoch, griff nach seinem Unterarm und hielt ihn auf.

"Chief,"

Gott, war dieses heisere Krächzen wirklich meine Stimme?

"Wer ist das?"

Mit einer müden Bewegung blickte er zu mir herab, starrte mir unverwandt ins Gesicht und flüsterte, fast unmerklichen den Kopf schüttelnd: "Ich weiß es nicht."

Ich hielt ihn nicht auf als er langsam zur Tür ging.

Durch das Glas des Eingangs sah ich Sandburg nach.

Mit leicht ausgebreiteten Armen, demonstrativ seine leeren Handflächen präsentierend, trat er nach draußen. Er hielt inne, gab den Kollegen Zeit ihn zu identifizieren, ehe er den abgesperrten Platz überquerte und einige Worte mit einem uniformierten Polizisten wechselte. Mein Gehör folgte ihm. Dann sprach er mit den Leuten von der Spurensicherung, versicherte den Sanitätern, dass er nicht verletzt sei, und drängte sich schließlich mit abwehrenden Gesten und den Worten "kein Kommentar" durch die Meute der Reporter zu den Streifenwagen.

Mein Partner - perfekt gefasst, professionell und kompetent.

Ich fragte mich, warum mich dieser Anblick so beunruhigte.




Sie war groß, definitiv größer als Sandburg, fast meine Größe. Herbes, kantiges Gesicht, schlank, durchtrainiert, muskulös, streichholzkurzes, hellblondes Haar. Sportlerin vielleicht, vielleicht Militär. Kein Gesicht, das ich erkannte, mit Sicherheit niemand von unserer Top-Ten Fahndungsliste.

Es gab zu viel Blut am Tatort.

Relativ wenig aus der Schusswunde, das war normal, aber aus Mund und Nase war ziemlich viel geflossen. Ihr Hemd war bis zur Taille befleckt, der Rest auf dem Boden verschmiert. Ein Gewebeabdruck von Sandburgs Jeans war zu sehen, er hatte darin gekniet.

Ich betrachtete ihre Handflächen - blutig. Die Schlieren in der rotbraunen Lache passten zur Größe ihrer Fingerkuppen. Unter den kurzen Fingernägeln klebte Blut.

Ein Stück undefinierbaren Fleisches haftete an ihrem Hemd, etwa walnussgroß.

Etwas war definitiv faul hier.

Und der Gestank...

Ihre Hose war durchnässt.

Urin.

Und offensichtlich auch Kot.

Kein gewöhnlicher Todeskampf.

Die tödliche Kugel hatte ihre Brust durchschlagen und steckte in der Wandverkleidung.

Frontal, nicht von hinten erschossen.

Nicht der Schuss eines Feiglings.

Ein absurdes, völlig unpassendes Gefühl von Stolz keimte in mir.

Der Untersuchungsausschuss für Schusswaffengebrauch würde den Hergang natürlich untersuchen, in diesem Fall sogar besonders gründlich, davon war ich überzeugt. Mein Partner besaß seine Waffe noch kein Jahr und "schon" hatte er einen Menschen erschossen.

Die Situation sollte eindeutig genug sein um ihm eine IA-Untersuchung zu ersparen. Wenn nicht, würden sie ihn auseinandernehmen, Stück für Stück, mit wachsender Begeisterung. Nicht jeder war von Sandburgs überraschender "Karriere" zum Detective begeistert.

Ich hoffte, dass sie kein unbeschriebenes Blatt war.

Neben der Leiche glänzte eine Beretta in aggressivem Schwarz, entsichert, nicht abgefeuert.

Blair war schneller.

Erleichterung. Dankbarkeit. Dieses Mal war mein Partner schneller gewesen - und entschlossener.

Hier könnte Sandburg liegen.

Mein Blick glitt über den toten Körper.

Kann man eine Leiche hassen? Ich konnte es. Tatsächlich war es sogar ziemlich einfach.

Ich hasste sie dafür, dass mein Partner sie töten musste, dafür, dass sie seinen Weg gekreuzt hatte. Ich hasste ihren bloßen Anblick, ihre Existenz.

Zorn stieg in mir auf. Völlig unprofessionell. Ich unterdrückte den irrealen Wunsch der Leiche einen Tritt zu versetzen.

Reiß dich zusammen.

Ich musste hier raus.

Hier gab es nichts mehr zu tun, Zeit für die Spurensicherung.




Grauschwarze Wolken verdeckten die Sonne. Ein kalter Wind zerrte an den Kronen der Bäume, riss an ihrem Laub und wirbelte die Blätter davon. Es sah nach Regen aus.

Hinter dem gelben Absperrband stand Sandburg neben dem Truck, starrte angestrengt auf seine Hände und schrubbte sie mit einem Lappen, den er weiß Gott wo gefunden hatte. Simon redete auf ihn ein und ich lauschte unwillkürlich. "...brauchen wir eine Aussage Sandburg. Was hat sich hier abgespielt? Der Schuss, es war Notwehr, nicht wahr?"

Mein Partner antwortete nicht, rieb nur konzentriert an seinen Händen.

Ich beeilte mich die beiden zu erreichen und hörte Simons frustriertes Schnauben. "Detective, ich rede mit Ihnen."

Sandburg hob den Kopf und sah Simon mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck an, als müsste er die Frage der Notwehr tatsächlich überdenken. Eine Sturmböe wehte ihm das Haar aus dem Gesicht. Ich erkannte verschmierte Blutspuren an seinem Hals, am Kiefergelenk, hinter dem Ohr und fokussierte meine Sicht unwillkürlich darauf. Es war ein verwischter Handabdruck.

Sandburgs Fingerabdrücke erkenne ich im Schlaf. Er hinterlässt sie zu Hause auf jeder Oberfläche und ihr Muster ist mir so vertraut wie sein Gesicht.

Mein Partner hatte einen blutigen Handabdruck am Hals und es war nicht sein eigener.

Sie hatte es gewagt ihn anzufassen...

Ich unterdrückte die neu aufkeimende Wut.

Was zum Teufel...

"Ja," antwortete er endlich mit leiser Stimme und blickte Simon nachdenklich an. "Ja, ich denke doch, dass es Notwehr war. Irgendwie schon." Mit diesem bemerkenswerten Statement drückte er einem verblüfften Captain den Lappen in die Hand, wandte ihm den Rücken zu und stieg in den Truck.

Simon blickte mit angewidertem Gesicht auf den fleckigen Stofffetzen hinab, ehe er mich ansah.

"Simon, er meint es nicht..."

Seine erhobene Handfläche brachte mich zum Schweigen.

"Ich weiß. Bring ihn nach Hause und sorg' dafür, dass er den Kopf wieder zusammenkriegt."

"Simon, sobald..."

"Und spätestens morgen früh erwarte ich, dass er seinen Hintern aufs Revier schleppt und seine Aussage macht. Mehr ist nicht drin."

Er stopfte den Lappen in einen Plastikbeutel.

"Die Spurensicherung ist noch im Gebäude und wir haben die Aussage der Kindergärtnerin. Das sollte vorläufig genügen. Außerdem brauchen wir Sandburgs Kleider. Ich rede mit den Leuten vom Schusswaffenausschuss - und jetzt verschwindet."

Simons grober Tonfall führte mich nicht hinters Licht.

"Er sieht nicht gut aus. Pass auf ihn auf", fügte er leiser hinzu ohne mich anzusehen.




Es nieselte und die Scheibenwischer des Trucks verschmierten die Scheiben als wir losfuhren.

Ach ja, neue Wischer...

Mit einem innerlichen Seufzen erinnerte ich mich daran, dass ich seit einer Woche Neue besorgen wollte, aber einfach nicht dazu kam.

Ich fokussierte meinen Blick etwas und sah problemlos zwischen den Schlieren hindurch. Es ging auch ohne neue Wischer. Allerdings fuhr Sandburg den Truck ebenfalls von Zeit zu Zeit und er konnte nicht auf diesen Trick zurückgreifen. Wir brauchten definitiv neue Blätter.

Die Nebenstraße führte am Zentralpark entlang und bei dem schlechten Wetter war sie an diesem Tag fast menschenleer.

Gelegentlich kam uns ein anderer Wagen entgegen. Die Heizung führte einen nicht enden wollenden Kampf gegen die beschlagenden Scheiben. Der stechende Gestank aus Sandburgs blutiger Kleidung machte die Wärme noch erstickender, obwohl das Fenster ein Stück offen stand.

Mein Blick konzentrierte sich auf die Straße aber ein kleiner Teil meines Bewusstseins verarbeitete sorgfältig Informationen über Sandburgs Körperfunktionen.

Körpertemperatur etwas niedrig, Puls zu schnell, Atmung flach und angespannt.

Es gefiel mir nicht besonders, was ich da wahrnahm. Sandburg war komplett aus dem Gleichgewicht.

Er roch sogar falsch und ich nahm noch einen prüfenden Atemzug.

Sauer - Angst, mit einem bitteren Aroma - Zorn. Und ein stechender, scharfer Hauch von - Hilflosigkeit?

"Hör auf damit."

"Was?"

"Ich sagte: Hör auf damit."

Seine Stimme klang ungeduldig und er sah mich entnervt an.

Ah Vorsicht - dünnes Eis hier.

Sandburg weiß es nicht, aber die Daten über seinen physischen Zustand sind mittlerweile fester Bestandteil meiner Umgebung. Gewöhnliche Eindrücke. Es regnet, es ist Nacht, Millers kochen Kohl, Sandburg hat einen Puls von 120/80 und das Thermostat ist mal wieder ausgefallen. Was gibt's heute Abend im Fernsehen?

Es ist keine absichtliche Anstrengung, es *ist* einfach. Die Informationen sind da, stetig, im Hintergrund, ein Datensatz unter tausend anderen, nur auffällig, wenn sie von der Norm differieren. Dann dringen sie in mein Bewusstsein, zeigen mir, dass die Situation vom Üblichen abweicht, dass etwas meine Aufmerksamkeit benötigen könnte. Mein persönliches Frühwarnsystem.

Sandburg starrte mich aggressiv an, offensichtlich noch immer auf eine Erwiderung wartend.

Um eine Antwort verlegen, zuckte ich nichtssagend mit den Schultern und er wandte den Kopf ab, starrte stumm aus dem Seitenfenster.

Er brauchte das nicht zu wissen. Ich hatte absolut nicht das Bedürfnis die Sache bis zum Abwinken durchzuhecheln. Es war einfach nicht wichtig genug.

Wichtig war, dass ich mich endlich daran gewöhnt hatte.

Wie hatte ich mich dagegen gewehrt. Damals, nachdem Sandburgs Herz in meinem Schädel dröhnend zu neuem Leben erwachte. Und dort blieb. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ein stetiger, dumpfer, alles übertönender Rhythmus. Als mich Sandburgs Geruch noch verfolgte, nachdem ich schon drei Häuserblocks von ihm entfernt war, als ich stundenlang schlaflos im Bett lag und das Prickeln auf meiner Haut seiner Wärmesignatur folgte.

Von der Küche ins Wohnzimmer, ins Bad, zurück in die Küche, an den Kühlschrank...

Es machte mich nervös und gereizt. Ich versuchte ihn auszublenden, den Sandburg-Input abzuschalten, wieder allein zu sein in meinem Kopf. Ich versuchte jeden Trick den er mir beigebracht hatte und ein paar andere, von den er nichts wusste.

Alles was es mir einbrachte waren Kopfschmerzen, Übelkeit, schlechte Laune und einen Rüffel von Simon.

Der Sandburg-Input blieb.

Ich besuchte ihn danach im Krankenhaus. Einmal. Ein zweites Mal brachte ich nicht über mich, stattdessen verfolgte ich Barnes. Ich versuchte Blair zu meiden wo es ging, stritt mit ihm, kämpfte um Abstand, nichts funktionierte.

Der Sandburg-Input blieb.

Es war erschöpfend.

Dann gab ich auf.

Und es verschwand.

Nicht gänzlich, aber die aufdringliche, überwältigende Präsenz in meinem Hirn verblasste zu einem stetigen, informativen Datenfluss. Die Reichweite verringerte sich auf ein tolerierbares Level. Sandburg etablierte sich irgendwo im Hintergrund meiner Wahrnehmung, zwischen Wetterlage und Raumtemperatur. Meist uninteressant, mitunter Aufmerksamkeit erregend, häufig nützlich.

Es war ein Werkzeug, das sich im Bedarfsfall nutzen ließ, und ansonsten ein unauffälliges Puzzleteilchen meiner Umgebung.

Und so sollte es nach Möglichkeit auch bleiben.

Absolut nicht notwendig die Sache wieder aufzuwärmen.

Das Panorama aus Büschen und Bäumen glitt am Fenster vorbei, als er plötzlich tief einatmete. Sein Puls pochte schneller und härter. Ein kurzer Seitenblick zeigte mir seine kalkweiße Gesichtsfarbe.

Oh-oh, das sah nicht gut aus.

Ich hörte ihn schlucken, hörte den nur für mich wahrnehmbaren, Übelkeit erregenden Ton, mit dem sich sein Magen zusammenzog und seine Schlundmuskeln verkrampften, einmal, zweimal. Seine Augen weiteten sich und die linke Hand fuhr zum Mund, ein vergeblicher Versuch das Unvermeidliche zu verhindern, als ich schon auf die Bremse trat und den Truck zum Straßenrand zog. Noch ehe der Wagen stand, riss er die Tür auf und stürzte hinaus.

Die würgenden Geräusche verstummten. Dann begannen sie erneut und ich stieg ich aus dem Truck, eilte um den Wagen herum zur anderen Seite.

Der Himmel wählte genau diesen Moment um alle Schleusen zu öffnen und aus dem Nieseln wurde ein kalter Platzregen.

Zwischen Truck und Gebüsch, im schlammig aufgeweichten Straßengraben, kniete Blair und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

Anders konnte man es nicht nennen.

Ich streckte die Hand nach ihm aus doch er schüttelte den Kopf, hustend, spuckend, und schlug sie ungehalten weg. Er versuchte zu sprechen, aber die Krämpfe in seiner Kehle erstickten seine Stimme, während das Wasser auf ihn hernieder prasselte, bis auf die Haut durchnässte und kleine, rostbraune Rinnsaale halbgeronnenen Blutes aus seinem Haar spülte.

Ich tastete nach den Papiertaschentüchern, ging vor ihm in die Hocke und wartete.

Rostbraun ist eine hässliche Farbe.




Mittlerweile war es dunkel im Loft. Dunkel und still. Nur der Schimmer der Nachttischlampe spendete einen schwachen Schein.

Von Zeit zu Zeit geisterte der Lichtfinger eines vorbeifahrenden Autos durchs Fenster, kroch über Wände und Decke, verschwand schließlich wieder und ließ das Wohnzimmer erneut in Dunkelheit und Stille zurück. Nicht viele Fahrzeuge waren um diese späte Nachtstunde noch unterwegs.

Ich brauchte kein zusätzliches Licht um die Uhrzeit zu erkennen.

Halb vier morgens.

Der Wind trieb den prasselnden Regen in Böen gegen die Scheiben der Balkontür und rüttelte an ihren Flügeln. Das leise Motorgeräusch eines Wagens näherte sich, wurde lauter, fuhr vorbei und verebbte wieder in der Ferne, begleitet vom Lichtstrahl seiner Scheinwerfer.

Sandburg, sag was!

Die Wand hinter mir und der Treppenabsatz unter meinem Hintern waren ebenso kalt wie das flaue Gefühl in meinem Magen. Keines von beiden ließ sich gänzlich ignorieren.

Seine Reaktion war - verheerend. Buchstäblich, anders ließ es sich nicht nennen. Zum ersten Mal zweifelte ich ernsthaft daran, dass er in der Lage war diesen Job zu verkraften.

Habe ich mich so geirrt?

Ich konnte - wollte - es nicht glauben aber der lebende Beweis saß auf dem Wohnzimmersofa und wandte mir den stummen Rücken zu. Der leise, stetige Input verriet, dass er nicht meditierte. Er war wach, aber er wirkte - leblos, wie betäubt.

Und er sprach nicht, kein Wort.

Ich rieb mir mit der Hand über das Gesicht und fragte mich zum x-ten Male in dieser Nacht, was ich tun konnte.

Er ließ mich nicht heran.

Seine sorgfältig errichtete Fassade erlaubte es ihm zu funktionieren, bis die Tür des Lofts hinter uns zugefallen war. Bis er seine Waffe und die blutbefleckte Kleidung abgelegt und geduscht hatte. Jede Bewegung schweigend, konzentriert. Alltägliche Verrichtungen als dünne Wand zwischen der Außenwelt und den Trümmern seines Inneren.

Die Fassade zerbröckelte nachdem die Tür seines Zimmers hinter ihm zufiel.

Meine Sinne folgten ihm.

Der salzige Geruch von Tränen, lautlos in meinen Ohren, scharf in meiner Nase.

Weder die verschlossene Tür noch der kupfrigen Blutgestank hatten ihn überlagert.

Sandburg-Input.

Er weinte nicht laut, nicht befreiend - das wäre ein Segen gewesen. Es gab nur diesen stetigen, stillen Fluss salziger Flüssigkeit. Eine körperliche Reaktion die er nicht unterdrücken konnte, nicht der erleichternde Gefühlsausbruch mit dem eine Heilung begann.

Es erschreckte mich.

War's das Blair? War das der letzte Schlag?

Er schlief wenig an diesem Tag. Nie lange und nur sehr unruhig.

Ich hörte, wie er Bücher aus dem Schrank zog, darin blätterte, hektisch, vorwärts, rückwärts.

Ich hörte sie zu Boden poltern, die schabenden Geräusche mit denen er fieberhaft nach einem neuen suchte. Das hastige Klicken von Computertasten, einmal unterbrochen vom Scheppern einer an der Wand zerschellenden Kaffeetasse. Stunden um Stunden ‚klick-klick - klick-klick-klick - klick'.

Ich hörte ihn leise fluchen, aufstehen, rastlos im Zimmer umhergehen, bevor er sich erneut auf das Bett fallen ließ und wieder für kurze Zeit in einen friedlosen Schlaf sank.

Es war erschöpfend ihm zuzuhören.

Gegen halb zehn abends öffnete sich die Tür.

Ich machte mir gerade einen Kaffee, als er herauskam, sich im Bad erneut übergab und dann wortlos zur Couch schlurfte.

Seitdem saß er dort, mit ausdruckslosem Gesicht, schweigend.

Seine einzige Reaktion war ein heftiger Schlag gegen meinen Arm, als ich die Hand nach seiner Schulter ausstreckte, während er an mir vorbeigehen wollte. Die Augen voller Zorn, voller Angst, voller - Hass?

Ein weiteres Auto fuhr vorbei und ich ließ den Kopf an die Wand sinken.

Yeah, Chief, nicht viel Entscheidungsfreiheit, wenn man in die Mündung einer Waffe sieht, nicht wahr?

Der bittere Gedanke war unwillkommen, aber das machte ihn nicht weniger wahr.

Nicht viel Platz für Ideale, wenn man seine Pflicht tun muss. Willkommen im Club.

Ich dachte an meinen ersten Todesschuss und ich verstand seinen Zorn. Ja, ich kannte ihn, diesen Zorn, helfen konnte ich nicht. Das konnte niemand.

Es bleibt immer eine Sache zwischen deinem Spiegelbild und dir. Dieses erste Mal abdrücken müssen, dieses erste Mal spüren müssen, das einem die Wahl genommen ist. Es macht zornig und es vernichtet dein Selbstbild.

Manche finden nie ein Neues.

Und dann kommt die Angst, Chief, richtig?

Du realisierst, dass du getötet hast.

Dass du innerhalb von Sekunden ein Leben vernichtet hast.

Du fürchtest, es wieder tun zu müssen.

Du weißt, dass du es wieder tun wirst.

Du weißt jetzt, dass du töten kannst, Chief, zu was macht dich das? Wer bist du jetzt? Was bist du jetzt? Das sind die Fragen, nicht wahr?

Ja, auch seine Angst konnte ich begreifen.

Ich kannte jede einzelne dieser Empfindungen und ich hatte Neulinge daran kaputtgehen gesehen. Auf jedes dieser Gefühle war ich vorbereitet, entschlossen für meinen Partner da zu sein, wenn die Zeit gekommen war.

Ich war nicht darauf vorbereitet, dass sich sein Zorn gegen mich richten würde.

Nicht darauf, das *Begreifen* in seinem Gesicht zu lesen, nicht auf die Anklage in seinem Blick.

Heute hatte er begriffen, was es heißt, mein Partner zu sein, ein Cop zu sein, und welcher Preis dafür zu zahlen ist. Sandburg hatte gezahlt.

Der Preis ist zu hoch, nicht wahr? Und jetzt brauchst du ein Ventil, einen Schuldigen gegen den sich dein Zorn richten kann.

Die ausweglose Verzweiflung, die ich in ihm spürte, besaß das Potential ihn zu vernichten und ich kam nicht an ihn heran.

Sieh mich an Blair, ich bin dein Spiegelbild und ich sage dir, du bist ein Held, kein Mörder. Du hast heute nicht nur einen Menschen getötet, sondern Leben gerettet.

Aber das konnte er jetzt nicht sehen. Vielleicht noch nicht - hoffentlich *noch* nicht.

Wie bringe ich dich da durch?

Innerlich seufzend fuhr ich mit den Händen über mein Gesicht aber die Mattigkeit ließ sich nicht einfach wegwischen. Die Hilflosigkeit zerrte an meinen Nerven und ich war abgespannt.

Wir mussten darüber reden, unbedingt.

Diese Art Trauma kann einen Menschen zerstören.

Sandburg gehörte in die Hände eines Fachmanns, selbst wenn ich ihn über der Schulter zum Polizeipsychologen schleppen musste.

Mit einem tiefen Atemzug stieß ich mich von der Wand ab um einen neuen Versuch zu unternehmen. Die Müdigkeit machte es schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Einen Augenblick lang betrachtete ich seinen abweisenden Rücken, ratlos wie ich anfangen sollte.

Eine heftige Regenböe prasselte gegen die Balkontüren und lenkte meine Aufmerksamkeit von ihm ab. Ich dämpfte mein Gehör gegen das nasse Stakkato und blickte zur Terrassentür. Die Tropfen klatschten mit wilder Wut an die Scheiben, überzogen sie mit einem Film glänzender Nässe, vereinigten sich zu kleinen Bächen, rannen am Glas hinab und wurden durch einen Schauer neuer Tropfen ersetzt. Ich fühlte mich ausgelaugt. Ein Fahrzeugscheinwerfer ließ die Wassertropfen glitzern, wie kleine Diamanten, tausend funkelnde kleine Punkte. Wenn ich genau hinsah, konnte ich winzige Spiegelbilder darin erkennen, sogar Farben. Auch die Rinnsale waren farbig, verschwimmende Schlieren in allen Schattierungen des Farbspektrums. Sie bewegten sich mit dem Licht, mit den Wassermolekülen, bildeten einen ständig bewegten Teppich aus Licht und Farben, kleine, bunte Teilchen, die unaufhörlich zusammenflossen. Ein Kaleidoskop aus Licht und Farben, ein Universum aus Formen...




"...zurück. Kannst du mich hören, Jim... konzentriere dich auf meine Stimme... du musst mir zuhören... komm heim, Jim... jetzt ist nicht die richtige Zeit wegzutreten... halte dich an den Worten fest und folge ihnen nach Hause... du kannst nicht die ganze Nacht da sitzen bleiben... komm zu dir... Jim, komm zurück... ich bin hier... du musst zurückkommen Jim, konzentriere dich..."

Ich schüttelte den Kopf als Blairs leise, routinierte Stimme endlich aus dem Wohnzimmer zu mir heraufdrang. Pflichtbewusst, leidenschaftslos wie nie zuvor, zog sie mich in die Realität zurück. So bar jeder Emotion, dass es mir fast widerstrebte ihr tatsächlich zu folgen.

Gott, ich muss viel erschöpfter sein als ich dachte, wenn ich an einer nassen Fensterscheibe zone. Das ist einfach lächerlich.

"Ich bin da, Chief."

"Gut."

Das erste Äußerung seit Stunden.

Endlich, ich muss etwas sagen, bevor er wieder verstummt, irgendwas...

"Es war nicht deine Schuld. Du wolltest sie nicht töten."

Statt einer Antwort schnaubte mein Partner durch die Nase und stand mit einer unerwartet heftigen Bewegung vom Sofa auf. Seine wenigen Schritte bis zur Balkontür zeugten von mühsam unterdrücktem Ärger.

"Bist du dir da so sicher?"

Mit verschränkten Armen blieb er vor der Glastür stehen und ich konnte mühelos sein Spiegelbild in der nassen, dunklen Scheibe erkennen. Ich betrachtete es, distanziert, als sähe ich ihn zum ersten Mal.

Verwaschene, bequeme Jeans, ein rotkariertes Flanellhemd, Ärmel aufgekrempelt, barfuss. Der Herzschlag zu heftig, zu schnell und das Gesicht zu blass. Ich sah die Schlagader an seinem Hals pochen. Die Pupillen - so erweitert, dass die blaue Iris nur noch einen schmalen Ring bildete. Er starrte in die Dunkelheit, als könnte er dort Antworten finden. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich glauben können, er stünde unter Drogen. Selbst über diese Entfernung hinweg konnte ich jedes einzelne Haar unterscheiden und ich merkte, dass ich schon wieder im Begriff war in ein Zone-out abzurutschen.

Ausgepowert, ich bin völlig übermüdet.

Mit einem Kopfschütteln versuchte ich die Konzentration zu brechen. Bewegung war jetzt gut. Ich stand auf und ging die Treppe hinab, versuchte fieberhaft die richtigen Worte in meinem leeren Hirn zu finden. Richtige Worte waren jetzt das Wichtigste und ich hatte keine.

"Ja, ich denke du hattest keine andere Wahl."

Ahh - flach Ellison, sehr flach. Was soll er mit dieser Plattitüde anfangen?

Stumm verfluchte ich meine Unfähigkeit die passenden Worte zu finden.

Es fühlte sich falsch an. Worte fühlten sich falsch an.

Lass dich berühren, Chief.

Ich wollte ihn anfassen, seinen Zorn besänftigen, ihm das Gefühl geben, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Aber er hatte mich heute schon zweimal zurückgewiesen.

Ich möchte kein drittes Mal riskieren.

So blieb ich dicht hinter ihm stehen, sorgfältig darauf bedacht ihn nicht anzutasten, spürte die Wärme, die sein Leib ausstrahlte, und unterdrücke das Verlangen meine Hände auf seine Schultern zu legen.

Seine Haltung versteifte sich.

Ich vergrub die Hände in den Gesäßtaschen meiner Jeans um sie daran zu hindern von selbst den Weg zu seinem Körper zu finden.

Bitte Blair...

In meiner Kehle saß ein Kloß, der sich nicht wegschlucken ließ, und ich blickte auf seinen Scheitel hinab. Als ich wieder hochsah, trafen sich unsere Blicke in der Scheibe. Wir starrten uns lange Sekunden in die Augen. Dann wusste ich, dass er mich dieses Mal nicht abweisen würde.

Mit sanftem Druck legte ich meine Hände auf seine Schultern. Spürte wie sich die verkrampften Muskeln unter meinen Handflächen fast unmerklich lockerten. Unwillkürlich entwischte ihm ein leiser Seufzer, als ich ihn sachte an mich zog. Er gab dem Druck meiner Hände nach, lehnte den Kopf zurück an meine Schulter und schloss die Augen.

Endlich...

Es fühlte sich richtig an.

Lange, stille Minuten verstrichen, während die Anspannung Stück für Stück aus seinem Körper wich.

An meiner Brust lehnte Blair, nicht Detective Sandburg. Er würde bald reden und ich bereitete mich darauf vor Dinge zu hören, die ich fürchtete.




"Ich konnte nicht auf sie zielen Jim. Es ging einfach nicht. Ich hab's versucht aber ich konnte es nicht." Blairs Flüstern war kaum zu hören.

Ah, Partner...

"Ich weiß: `zielt auf den Oberkörper, zielt auf die größte Fläche. Ihr habt vielleicht nur diesen einen Schuss.' Aber es ging nicht Jim, hier ging es einfach nicht."

Ich habe versagt, ich habe ihn überschätzt.

Von all den Situationen, in denen er eine Waffe benutzen musste, war es ausgerechnet diese eine, in der er es nicht konnte.

Warum?

"Was ist passiert?"

Seine Schultern zuckten nur kurz unter meinem Griff.

"Ich musste etwas tun, die Kids waren in Gefahr Jim, sie hatte eine Waffe."

Ich hielt ihn fester.

"Ich weiß, Chief."

"Also zielte ich auf ihre Hand und rief: `Cascade PD, keine Bewegung!' Aber sie fuhr zu mir herum und ich drückte ab. Ich drückte einfach ab. Die Kugel traf sie in die Brust. Ich konnte nichts mehr tun Jim, nichts. Ich konnte diese gottverdammte, verfluchte Kugel nicht mehr zurückholen."

Ich krümmte mich innerlich bei dem Klang seiner Stimme.

Sein leiser Tonfall, so kontrolliert, so angestrengt distanziert und sorgfältig um Fassung bemüht, konnte seinen Zorn und seine Erschütterung nicht vor mir verbergen. Ich spürte seine Fassade bröckeln, wartete auf den Augenblick, in dem sie einstürzen würde, bereit der Fels zu sein, an dem sich seine Wut brach, und danach die Scherben einzusammeln.

"War sie sofort tot?"

Blair stieß ein heiseres, humorloses Lachen aus und löste sich mit einer heftigen Schulterbewegung von mir.

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Seine Faust traf den Türrahmen mit grimmiger Wucht - einmal, zweimal. Ich unterdrückte den Reflex meine Hände um seine Finger zu legen und sah zu wie die Haut über seinen Knöcheln aufplatzte. Die Faust öffnete sich zu einer weit gespreizten Hand.

Er stütze sich am Türrahmen ab und ließ den Kopf sinken.

"Nein, sie war nicht sofort tot. Sie hat zehn Minuten gebraucht. Sie war tot, als ich die Sirene des Krankenwagens hörte, aber sie hat zehn verdammte, lange Minuten gebraucht um zu sterben, zehn Minuten bis sie wirklich tot war!"

Sein Herz schlug schnell und hart. Die Spannung kehrte in seine Schultern zurück. Er kämpfte um seine Selbstbeherrschung und als er den Arm sinken ließ, konnte ich sehen wie sich die Risse in der Mauer um ihn wieder schlossen.

Keine Mauern mehr Chief.

Langsam, vorsichtig streckte ich die Hände nach ihm aus und berührte seine Oberarme. Er ließ es geschehen, atmete nur tief durch, als er den Kopf in den Nacken sinken ließ und in dem vergeblichen Versuch die quälenden Bilder auszusperren, die Augen schloss.

Er war am Ende.

Ich spürte wie er sein Gewicht langsam gegen mich lehnte, zu ausgebrannt um sich gegen seine eigenen Bedürfnisse zu wehren. Seine Kräfte aufgezehrt in diesem aussichtlosen Kampf um Fassung.

"Was war noch?"

Ich beobachtete sein Gesicht im dunklen Spiegel der Glastür. Er öffnete nicht einmal die Augen als er antwortete.

"Was bringt dich auf die Idee, dass da noch mehr war?"

"Du hattest die Frau auf dem Schoß, als ich dich fand, und sie ist offensichtlich nicht leicht gestorben. Was ist geschehen?"

Seine Lider öffneten sich und seine Augen starrten blicklos ins Leere.

"Sie war wie du."

Seine Worte klangen rau, erstickt, gebrochen.

"Was?"

"Sie war ein Sentinel", bestätigte er leise.

Oh Jesus.

"Und du hast versucht sie zu retten."

"Nein - ich habe nicht versucht sie zu retten."

Sein Haar strich an meinem Hals entlang als er den Kopf bewegte.

"Tatsächlich habe ich sie sogar getötet. Nicht erschossen Jim - getötet."

Die Haare in meinem Nacken richteten sich auf und die Stimme meines Partners jagte einen eisigen Kälteschauer über mein Rückgrat.

Killer...

Unsere Blicke prallten in der Scheibe aufeinander.

Das Gesicht im Spiegel verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln.

Die Augen waren ein lautloser Hilfeschrei.

Killer...

Sanft aber entschieden schob ich ihn leicht von mir weg. Er setzte mir keinen Widerstand entgegen, als ich ihn zu mir umdrehte.

"Ich glaube du erzählst mir jetzt besser alles was sich dort abgespielt hat."

Er sah mich an, aber sein Blick fokussierte sich nicht. Er nahm mich nicht einmal wahr, als sich seine Lippen schließlich bewegten und er zu sprechen begann.




Ein Schlag vor meine Brust. Zuerst tut es gar nicht weh, dann fühle ich, wie das Gewebe in meiner Brust zerreißt und sengender Schmerz setzt ein. Der Kerl muss geschossen haben. Was hat er noch gebrüllt? "Cascade PD?" Ein Bulle! Mist - ich wusste doch, dass es eine Scheiß-Idee war. Was ist nur in mich gefahren? Es hätte doch alles glatt gehen sollen. Wenn sie mir geholfen hätte, wäre das alles nicht passiert. Warum hat sie mich im Stich gelassen? Mir blieb doch keine andere Wahl. Es hätte doch alles glatt gehen sollen. So war das nicht geplant. Ach Scheißescheißescheiße, aber ich musste doch weg. Hirnrissig - zu spät. Wie bin ich nur jemals auf diesen Gedanken gekommen? Ich hätte die Finger davon lassen sollen, was hat mich nur geritten? Und jetzt? Kein Job, kein Geld, kein gar nichts. Ich weiß was ich gesehen habe, was ich gehört habe, gerochen, gefühlt. Ich bin nicht verrückt und keiner kann mir was anderes einreden. Ich lasse mich nicht einsperren - dazu müssen sie mich erst mal kriegen...

Ahh, das tut weh. Mist, sieht so aus als hätten sie mich schon erwischt. Verdammt! Was hat ein Bulle hier zu suchen? Mann, der Boden ist hart, verdammt hart und kalt. Es ist so kalt hier. Kann jemand diesen Spieß aus meiner Brust ziehen? Und laut, so furchtbar laut, all diese Kiddies schreien wie verrückt. Dabei sind sie doch längst weg, warum schreien die eigentlich immer noch, können die nicht aufhören? Hell, es ist viel zu hell hier. Kann jemand mal die Sonne ausmachen? Und aufhören meine Netzhaut abzuziehen? Oh Gott, oh Scheiße, was ist da so nass in meiner Hose? Und der Gestank. Bin ich das? Gott ich will hier raus, nur raus. Der Gestank und dieser Geschmack, Blut, und die Zunge tut mir weh...Zunge, wo ist meine Zunge...? Ich glaub ich muss kotzen.

Ich hab mir ein Stück Zunge abgebissen, da liegt ein Stück Fleisch in meinem Mund. Bah, ich kann es mit dem Stumpf noch hin und her rollen. Ausspucken, warum kann ich das nicht ausspucken, ich will es ausspucken aber irgendwie gehorcht mir mein Mund nicht. Ich will hier raus, ich will raus aus diesem Körper. Himmel, was ist hier nur so furchtbar schiefgelaufen? Nichts als Schmerzen, vielleicht haben sie ja doch Recht und ich bin verrückt? Das Zucken, warum hört das Zucken nicht auf? Was ist das? Hilfe! Ich ersticke, schlucke Blut... Luft, ich brauche Luft... warum dreht sich die Welt eigentlich so... ich will raus... was ist hier los... was ist mit mir los? Ich kriege keine Luft mehr, die Nase ist zu, alles schmeckt nach Blut, ich will Luft...

Ich sterbe.

Das muss es sein. Ich habe nicht gewusst, dass sterben so weh tut. Keine sanften Engel, kein strahlend helles Licht am Ende eines Tunnels. Nur Gestank nach Scheiße und Blut, nur Geschmack nach Kupfer und Salz. Mir ist schlecht. Da brennt Feuer in meiner Brust. Tausend heiße Nadeln in meinen Augen. Nur Schmerz an dieser weißglühenden Stelle wo meine Augen sein sollten. Meine Augen schmelzen, werden flüssig, bestimmt laufen sie mir aus den Höhlen... warum ziehen sie mir die Haut ab? Was habe ich getan?

Eisige Kälte, sengende Hitze. Scharfe Speere aus schmelzendem Stahl dringen durch meine Ohren direkt in mein Gehirn, werden zu Haken, ziehen mein Hirn durch die Ohren hinaus... sie ziehen mir das Hirn durch die Ohren raus! Ich will sterben, aufhören, aufhören, ich will hier raus, ich kann nicht, kann nicht... ich muss doch schon tot sein, oder...? Warum geht das nicht?

Gott - wenn es dich gibt, bitte hab Erbarmen. Bitte, bitte... Gott bittebittebitte...

Oh - oh Gott, ja - ja das ist gut - so gut. Was ist das?

Eine Hand, oh tut das gut, so gut. Kühl, beruhigend, ahhh danke Gott, danke! Wo ist die Berührung? Ich will mehr davon, nicht aufhören, nicht aufhören, bittebitte, nicht weggehen, ich will mich hineinlehnen, hineinkriechen, mit ihr verschmelzen... Sie nimmt den Schmerz weg, was *ist* das... ich muss es sehen, unbedingt, ah ja - es geht - ich kann sehen. Ich kann wieder sehen.

Gott hat braunes Haar und blaue Augen und seine Lippen bewegen sich. Gott redet mit mir, aber ich kann ihn nicht hören. Ah, ich muss mir mehr Mühe geben, muss mich konzentrieren. Gott verzieht das Gesicht und er hat Schweißperlen auf der Stirn, Gott hat Schmerzen?

Ich muss lauschen...

"...helfen. Kannst du mich hören?"

Ich versuche zu nicken, zu lächeln, keine Ahnung ob es klappt. Irgendetwas muss geklappt haben. Gott lächelt mir beruhigend zu, sein Gesicht ist angespannt, aber er lächelt...

"Gut."

Seine Hand auf meinem Fleisch verströmt Stille. Ich strecke die Hand nach ihm aus. Kann man Gott anfassen? Ich fühle meine Hand nicht, ich sehe sie nur. Sie langt nach Gottes Gesicht und ich berühre seinen Hals, Kiefer, Wange. Ja. Ja! Jetzt kann ich ihn fühlen. Gott ist warm und sein Kinn ist rau. Wer hätte gedacht, dass Gott sich rasieren muss? Meine Finger hinterlassen blutige Schlieren auf seiner Haut. Ich würge, mein Körper krampft sich zusammen, mein Magen versucht durch meinen Hals ins Freie zu kriechen. Ich spucke das Stück Zunge aus und Gott blinzelt und schluckt.

Ich lausche angestrengt...

Seine Stimme ist leise, besänftigend, sie umhüllt mich wie ein warmer Mantel und ich greife nach ihr mit allem was ich habe, lasse mich hineinfallen. Nichts existiert mehr auf dieser Welt, nur Gottes Stimme. Sie zieht mich unwiderstehlich zu sich, umfängt mich, umarmt mich. Ein Ausweg, mein Ausweg, Tränen rinnen meine Wangen hinab, mein Herz weint. Ich will zu dieser Stimme, will eins mit ihr werden, will ihr gehorchen... ich versinke in Gottes Augen und kann plötzlich seine Worte verstehen.

Gott ist verzweifelt aber seine Worte sind süß und alt und sprechen zu meiner Seele.

"...mit Geruch. Geruch und Geschmack, konzentriere dich darauf. Kannst du das Blut schmecken, kannst du den Tod riechen? Gut, jetzt hör mir zu. Hör mir gut zu. Da ist kein Blut mehr, kein Kupfer, kein Tod. Da ist Salz in deinem Mund, ein salziger Geschmack, nur salzig, wie... Meerwasser. Wie ein kühles, erfrischendes Bad im Ozean. Spürst du es, fühlst du es? Kannst du es schmecken? Ja? Kannst du es riechen, wie eine frische Brise draußen am Strand? Ja, so, genau so, so ist es gut... Jetzt lässt der Salzgeschmack nach, wird schwächer, immer schwächer. Fühlst du wie es schwächer wird? Eigentlich ist es gar nicht mehr salzig, überhaupt nicht, eher frisch... Ja, genau so, gut so. Es schmeckt jetzt frisch. Frisch und klar, sauber wie... Quellwasser. Die Luft ist rein, sauber... geruchlos. Spürst du es? Da ist kein Geschmack mehr, kein Geruch, nichts mehr was dich stört, nichts mehr was dir Übelkeit verursacht. Ah, gut, du machst das sehr gut... du kannst nichts mehr riechen, nichts mehr schmecken... da ist nichts mehr..."

Gottes Finger berühren meine Wange und erschaffen eine kühle, glatte Liebkosung inmitten hell lodernden Feuers.

Ah, wie herrlich. Dieses gesegnete Nicht-Riechen, Nicht-Schmecken. Ich klammere mich an diese Erleichterung. Konzentriere mich auf dieses wundervolle schwarze Loch, wo eben noch mein Geruchs- und Geschmackssinn war. Ich krieche in diesen kleinen, schützenden Unterschlupf um mich vor Schmerz und Qual zu verstecken und lausche wieder auf Gottes Stimme.

Meine Augen hängen an seinen Lippen. Ich versuche ein Lächeln. Gott weint, seine Tränen fallen auf mein Gesicht als er zurücklächelt und nickt.

"Gut."

Zwei meiner Sinne existieren nicht mehr.

Gott zieht meine Hand von seiner Wange und legt sie auf seine Brust. Ich fühle sein Herz unter meiner Handfläche pochen.

"Hier. Fühle nach meinem Herzen. Spürst du es? Spürst du meinen Herzschlag? Du kannst ihn fühlen, nicht wahr?"

Wieder nicke ich leicht, oder zumindest glaube ich das zu tun.

"Das ist gut. Sehr gut. Konzentriere dich ganz darauf, nichts anderes existiert, konzentriere dich nur auf das Gefühl unter deiner Hand. Fühle wie mein Herz schlägt, sonst nichts, nur wie mein Herz schlägt. Hast du's? Sehr gut, sehr gut, jetzt lass dich ganz in dieses Gefühl hineinfallen. Du spürst nichts mehr sonst, keine Kälte, keine Hitze, keinen Schmerz, du kannst nichts mehr fühlen, nichts mehr tasten, nur meinen Herzschlag... ja, gut so... nur meinen Herzschlag..."

Gottes Stimme ist ruhig, lullt mich mit ihrem leisen, sanften Klang ein. Großartig, das ist großartig. Der Schmerz verblasst, wird schwächer. Ich fühle nach diesem stetigen, wohltuende Pulsieren unter meiner Hand. Ein beständiger, verlässlicher Leuchtturm in diesem Meer aus Pein. Die Flammen ersterben, sinken zu einem Glühen herab, zu Wärme, zu... nichts. Mein Körper wird taub. Gott gibt mir einen Moment Zeit bis ich ihn wieder anlächle.

"Schön. Du machst das sehr schön. Du hast jetzt keine Schmerzen mehr, nicht wahr?"

Ich schüttele leicht den Kopf. Der Schmerz ist noch irgendwo da draußen aber er stört mich nicht mehr, ich fühle ihn nicht mehr.

"Sehr gut. Da ist jetzt nur noch mein Herzschlag den du fühlst. Ein angenehmes, beruhigendes Pochen. Jetzt wird es schwächer, kannst du spüren wie es schwächer wird? Immer schwächer, immer zarter. Du kannst es kaum noch wahrnehmen. Da ist fast nichts mehr. Kein Gefühl mehr, nicht in deinem Körper, nicht in deiner Hand, nirgendwo mehr..."

Wo eben noch eine Hölle aus zerrissenem Fleisch und Qual war ist nichts mehr. Erleichterndes, wundervolles Nichtfühlen.

Ich kann meinen Körper nicht mehr spüren, mein Tastsinn ist verschwunden und ich weiß, dass es für immer ist. Ich begreife was Gott tut. Ich liebe ihn dafür...

Gott lässt meine Hand behutsam sinken.

Es bleiben noch Sicht und Gehör.

Ich schaue Gott ein letztes Mal an.

Es ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe.

Er wird mir jetzt die Sicht nehmen und seine Stimme wird mich nach Hause bringen. Nach Hause, auf die andere Seite... wo es keinen Schmerz und keine Angst mehr gibt, nur noch Frieden...

Gott streckt die Arme nach mir aus, hebt meinen Oberkörper an und zieht mich in seine Umarmung.

Er drückt meinen Kopf an seine Brust. Ich kann sein Herz nicht mehr spüren aber ich höre es noch immer schlagen.

Seine Stimme ist zärtlich, wie das Streicheln, das ich nicht länger fühlen kann.

"Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin bei dir. Schließ' deine Augen."

Gehorsam schließe ich die Lider und lausche.

"Dunkelheit ist Wärme. Dunkelheit ist Schutz. Nichts kann dich im Dunkeln mehr erreichen. Nichts kann dich mehr bedrohen. Vertraue mir. Kein Feind kann dich mehr finden, kein Schmerz kann dich mehr erreichen. Das Licht lässt nach, verschwindet, graue Dämmerung zieht herauf, umfängt dich, hüllt dich in einen Mantel aus sanfter, samtener Schwärze. Da ist nur noch Dunkelheit, gesegnete sichere Dunkelheit..."

Selbst durch meine geschlossenen Lider sehe ich, wie das Licht verschwindet. Keine quälende Helligkeit mehr, keine glühenden Messer mehr in meinen Augäpfeln. Ich bin blind.

Ich schwebe in einer dunklen Blase aus Geborgenheit. Nur die sanfte Stimme Gottes wispert in mein Ohr... streichelt den einzigen noch verbliebenen Sinn.

"Du gehst nach Hause. Folge dem Pfad nach Hause. Meine Stimme wird dich begleiten, geh, du bist auf dem richtigen Weg... du gehst heim..."

Gottes Stimme verblasst, wird leiser, wird zu einem fernen Flüstern, schickt mich auf den Weg und ich spüre wie er mir entgleitet... die Fesseln meines Körper fallen von mir ab. Gottes Stimme verstummt, da ist nichts mehr...

NEIN!

Nicht alleine! Nicht alleine!

In Panik reiche ich mit allem hinaus was ich besitze, fühle eine andere Präsenz, einen anderen Geist, Gottes Präsenz! Ich greife nach ihm, ziehe ihn mit mir, hinüber, hinaus - ich kann nicht alleine gehen, ich brauche ihn, - nicht alleine... nicht alleine... das ist nicht richtig... Gott ist dazu bestimmt mit mir zu gehen... ich zerre mit aller Macht...




"Blair!" Ich rüttelte seine Schultern, erschreckt von seinem tranceähnlichen Zustand.

"Blair! Komm zu dir, Blair!"

Er schüttelte den Kopf und sah mich an, sah mich wirklich an, blickte mir ins Gesicht und nahm mich wahr.

"Jim", keuchte er.

Sein Puls raste. Seine Augen blickten panisch, hatten den zornigen Ausdruck verloren.

Ich habe Angst.

Ich zog seinen Kopf zu mir und presste sein Gesicht an meine Schulter.

Festhalten!

Seine Hände umklammerten meine Oberarme, als sei ich das Einzige, was ihn in dieser Welt hielt. Er ließ nicht los, seine Finger hinterließen Abdrücke auf meiner Haut.

Egal...

Der Schmerz war unwichtig, ich konzentrierte mich ganz auf ihn.

Nicht loslassen!

Wir standen unbeweglich, minutenlang. Sein gehetztes Keuchen das einzige Geräusch im Raum.

Dann wurde sein Pulsschlag langsamer.

Sein Atem beruhigte sich. Er rührte den Kopf und ich wagte ihn freizulassen, aber sein Griff blieb fest um meine Arme.

Schließlich schluckte er und sprach. Seine Stimme klang angespannt, jedes Wort kostete ihn Mühe.

"Sie war ein Sentinel Jim. Ich wusste es, als ich sie anrührte. Frag' mich nicht woher, keine Ahnung, ich wusste es einfach. Ich fasste sie an und ich spürte es. Es war einfach da, es war real Jim, das hab' ich mir nicht eingebildet."

Er nahm einige tiefe Atemzüge ehe er fortfuhr.

"Sie war tödlich verwundet und sie hatte keine Gewalt mehr über ihre Sinne. Es fühlte sich grässlich an Jim."

In seinem Blick stand noch der Schatten des Schreckens.

"Und sie konnte nicht gehen Jim. Sie konnte nicht loslassen, es ging einfach nicht. Sie konnte nicht sterben. Jim, sie litt... sie brauchte meine Hilfe! Ich konnte nicht anders."

"Blair..."

Sein Kopfschütteln brachte mich zum Schweigen. Ich konnte den Ausdruck seiner Augen trotz des schwachen Lichtes lesen.

Rebellion, Aufbegehren gegen eine Erkenntnis, die ich noch immer leugnete aber er fand den Mut sie auszusprechen.

"Du wirst eines Tages sterben Jim."

Ich musste fast lachen angesichts der Offensichtlichkeit dieser Äußerung.

Wer hätte gedacht, dass seine Hände noch fester zupacken konnten? Er sah mich eindringlich an.

"Verstehst du nicht? Du wirst eines Tages sterben Jim, und es besteht eine ziemlich große Wahrscheinlichkeit, dass das nicht in einem Schaukelstuhl sein wird. Irgendwann wird einer da draußen schneller oder hinterhältiger sein oder einfach nur Glück haben und dann wirst du genauso sterben wie sie."

Hilflose Verzweiflung färbte seine Stimme.

"Du wirst eines Tages mit einer Kugel im Leib oder einem Messer im Bauch vor mir auf dem Boden liegen und dein Leben im Dreck ausbluten."

Seine Rechte ballte sich zur Faust und er schlug hart auf meinen Arm ein.

"Du Idiot wirst in einem heroischen und vermutlich völlig sinnlosen Akt draufgehen, verstehst du? Du wirst krepieren, du Bastard, du wirst krepieren und ich werde nichts, nichts, nichts dagegen tun können!"

Er bemerkte die Tränen nicht, die über sein Gesicht liefen. Seine Stimme sank zu einem unglücklichen Flüstern herab.

"Ich werde nichts dagegen tun können, Jim. Ich werde daneben sitzen und nicht mehr tun können, außer dich hinüber zu bringen, genau wie sie. Das wird der letzte Dienst sein, den ich dir erweisen kann."

Ich antwortete ihm nicht, starrte nur in die Hoffnungslosigkeit auf seinem Gesicht.

Killer... flüsterte eine alte fremde Stimme in mir.

Gefährte... wisperte eine andere, ebenso alte.

Der Mann vor mir besaß die Macht mich zu töten, mit keiner anderen Waffe als seinen Gedanken und seiner Stimme.

Eine archaische Furcht öffnete einen schwarzen Strudel vor meinen Füßen.

Lauf...

Eine übermächtige Gier nach seiner Nähe hielt mich fest.

Bleib...

"Sie war nicht die Richtige."

Blairs leise Stimme durchdrang den Zwiespalt in mir.

"Wir gehörten nicht zusammen, sie und ich."

Sein Blick hielt meine Augen fest, suchte nach einem Zeichen des Begreifens.

"Ich gehörte nicht zu ihr, verstehst du?"

Ja ich verstehe...

37,5 ° Körpertemperatur, saurer Geruch von Angst auf seiner Haut, 120 Herzschläge in der Minute.

Gefährte...

Ich verstand besser als er ahnte.

Killer...

Ich leugnete es. "Blair das ist..."

"Was? Was ist es? Unglaublich, lächerlich, irrsinnig? Ja, ja und ja, aber glaub' mir Jim. Ich *weiß* wovon ich rede, ich war dabei, ich war in ihrem Kopf. Ich habe es gefühlt. Es ist ein unwiderstehlicher Sog, eine betörende Sehnsucht. Ich wollte an ihrer Seite bleiben, sie begleiten, "nach Hause" führen. Ich wollte nicht zurückkehren. Ich wollte es nicht."

Meine Stimme klang rau, fast grimmig, als ich ein letztes Mal versuchte es abzustreiten.

"Sandburg. Du warst..."

Sein Ton war fast ärgerlich als er mich unterbrach.

"Jim! Burton hatte Recht, Eli hatte Recht, sogar Brackett hatte recht, gewissermaßen. Ich bin dein... Gefährte, Partner, Guide, nenn' es wie du willst. Deiner Jim! Nur deiner! Und heute hab' ich einen Vorgeschmack darauf bekommen was das in letzter Konsequenz bedeuten wird."

Er schluckte, schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge.

"Ich wusste es nicht Jim. Es tut mir Leid."

Als er die Lider wieder öffnete, trafen sich unsere Blicke erneut. Ich erkannte Resignation in ihm.

Ein kleines unsicheres Lächeln geisterte über seine Lippen als er leicht den Kopf schüttelte.

"Ich werde dich nicht überleben, Jim."


Ende Teil I


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